Laudatio zur Verleihung des Wolfgang Swoboda Preises 2016 am 29.2.2016 gehalten von LStA Univ. Prof. Dr. Thomas Mühlbacher
(Auszug)
„In der Finanzwelt werden Unternehmen, die eine derart wichtige wirtschaftliche Rolle spielen, dass ihre Insolvenz beträchtliche Auswirkungen auf die Stabilität des gesamten Systems hätte als „too big to fail“ bezeichnet. Gerät ein solcher großer „player“ in Schwierigkeiten, hilft man ihm zur Abwehr eines systemgefährdenden Schadens mit einem „bail-out“ aus der Klemme. Während kleinere Unternehmen die Marktgesetze mit ihrer vollen Härte treffen, werden sie bei systemrelevanten meist mit staatlicher Hilfe einzelfallbezogen untergraben.
Friedrich Zawrel, dessen Lebensgeschichte Nikolaus Habjan gemeinsam mit Simon Meusburger aufgezeichnet hat, ist diese Welt fremd. Er spürt nur die Auswirkungen der dort getroffenen Entscheidungen. In den 1930er Jahren wächst er in schwierigsten Verhältnissen auf. Sein Vater ist Alkoholiker, die Mutter kann die Familie alleine nicht ernähren. Nach der Delogierung der als nicht förderungswürdig eingestuften Familie kommt er zunächst in ein Kinderheim und dann zu Pflegeeltern, die aber eigentlich nicht ihn sondern nur seinen Bruder aufnehmen wollen. Das lassen sie ihn auch spüren. Auf die Kränkungen reagiert er mit Flucht und landet schließlich „Am Spiegelgrund“, einer als Heilanstalt getarnten Euthanasieeinrichtung des Dritten Reiches in der als „medizinisch“ bezeichnete Versuche durchgeführt und fast 800 Euthanasiemorde an Kindern begangen wurden.
In einem Gutachten wird Zawrel als »erbbiologisch und sozial minderwertig« eingestuft. Das bedeutet die Freigabe zur Tötung. Er überlebt, weil ihm eine Krankenschwester die Flucht ermöglicht.
Nach dem Krieg gelingt es ihm nur schwer, in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Der Diebstahl eines Lebensmittelpaketes verschafft ihm das Stigma eines Kriminellen und verhindert eine Ausbildung. Erst Jahre später wird die Kriminologie die vom Österreicher Julius Vargha bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts begründeten Gedanken wieder aufnehmen und im Rahmen des labeling approach die Bedeutung einer solchen Etikettierung als kriminogenen Faktor näher erforschen.
Nach vielen Jahren, in denen er sich als Kleinkrimineller über Wasser gehalten hat wird Friedrich Zawrel verhaftet und psychiatrisch begutachtet. Im Sachverständigen erkennt er seinen Peiniger vom „Spiegelgrund“ wieder. Dieser ist mittlerweile hoch angesehen und vielbeschäftigter Gerichtsgutachter. Neuerlich attestiert er Friedrich Zawrel „soziale Minderwertigkeit“. Dieser nimmt – obwohl er seiner Mutter versprochen hatte, über die Zeit am „Spiegelgrund“ nicht mehr sprechen zu wollen – den ungleichen Kampf auf und findet Unterstützer. Nicht, um Rache zu nehmen, wie er sagt, sondern, um zu verstehen.
Der Ausgang der Sache ist bekannt: Das Verfahren gegen den ehemaligen NS-Arzt dauert, es kommt schließlich zwar zu einer Anklage aber zu keinem Urteil, weil dem mittlerweile verstorbenen Angeklagten wegen seines fortgeschrittenen Alters Verhandlungsunfähigkeit attestiert wird. Juristisch ist der Fall damit erledigt.
Nikolaus Habjan wählt die Form des Puppentheaters. Die von ihm verwendeten Klappmaulpuppen ermöglichen ungeahnte künstlerische Ausdrucksformen, die er meisterhaft nützt. Köpfe von Puppen sind austauschbar – ebenso austauschbar wie die Namen der Beteiligten in einem Strafverfahren. Das führt – losgelöst vom Einzelfall – zur grundsätzlichen Frage:
„Darf die Staatsanwaltschaft bei ihren Entscheidungen auf Systemrelevanz Rücksicht nehmen – darf es für sie ein „too big to fail“ geben?
Wir sind uns wohl schnell einig in der Antwort: In einem demokratischen Rechtsstaat darf es niemanden geben, der – im Orwell`schen Sinne – „gleicher“ ist als andere.
Warum gelingt es aber der Staatsanwaltschaft oft nicht, das öffentlich zu vermitteln?
Vielleicht auch, weil das Strafprozessrecht ist ein hochkomplexes System vielfach kollidierender checks and balances ist.
Ich möchte Sie einladen, mir noch einmal in die Welt der Hochfinanz zu folgen:
Die Financial Times sieht in dem als Unterhaltungsspektakel inszenierten Verfahren gegen den früheren Chef des Internationalen Währungsfonds, Dominique Strauss-Kahn eine Niederlage für das US-Rechtssystem – und zwar aus ganz anderen Gründen:
„An die Stelle der Unschuldsvermutung trat die Vorverurteilung, an die Stelle von Aufklärung erst einmal Mutmaßung, an die Stelle von Persönlichkeitsschutz öffentliche Sensationslust, an die Stelle von unvoreingenommenen Ermittlungen ein vorprozessualer Pranger durch erbarmungslose Medien.“ Trotz der Einstellung des Verfahrens sei DSK nicht rehabilitiert, weil die Chancen auf ein politisches Comeback gleich null seien.
Es wäre anmaßend und für einen Staatsanwalt auch höchst unprofessionell, sich ohne genaue Kenntnis der Verfahrensergebnisse ein Urteil bilden zu wollen, ob DSK schuldig oder ob er Opfer einer gegen ihn geführten Kampagne geworden ist. Das Gesetz gibt hingegen eine klare Antwort: „Es gilt die Unschuldsvermutung“.
Der Umgang von Politik und Medien mit diesem fundamentalen rechtsstaatlichen Grundsatz ist in der Tat oft leichtfertig und beschämend; die Strafanzeige wird zunehmend Mittel politischer Auseinandersetzung, bestimmte Comedy-Formate ernten schenkelklatschenden Beifall durch die Wiedergabe einzelner Sätze aus umfangreichen Ermittlungsakten.
Bereits 1885 nannte der erwähnte Strafrechtslehrer Julius Vargha die Heilighaltung der praesumptio boni eine condition sine qua non der bürgerlichen Rechtssicherheit und mahnte vor allen von der Staatsanwaltschaft ein unablässiges Streben nach der materiellen Wahrheit ein.
In diesem Spannungsverhältnis steht die Staatsanwaltschaft. Sie darf keine Vorrechte gewähren oder auch nur einen solchen Eindruck entstehen lassen, muss aber die Rechte Verfahrensbeteiligter wahren. Das gilt auch und vor allem in clamorosen Verfahren.
Nicht persönliche Befindlichkeiten, nicht die öffentliche oder die veröffentlichte Meinung dürfen zählen, sondern nur die strikte Rechtsstaatlichkeit. Die in § 240a StPO festgeschriebene Eidesformel für die Schöffen bringt es in antiquierter Sprache auf den Punkt: „ ..der Stimme der Zu- oder Abneigung, der Furcht oder der Schadenfreude kein Gehör zu geben“.
Unser Beruf ist ein applausfeindlicher und das ist gut so – denn Beifall kann auch von der „Eselsbank“ kommen.
Der erste Swoboda-Preisträger Karl Markovics meinte bei seinen Dankesworten 2014: „Ich weiß schon, dass „ohne Ansehen der Person“ bedeutet, dass ein Reicher nicht besser behandelt werden darf, als ein Armer. Aber vielleicht behandelt man einen Armen ja manchmal sogar schlechter, wenn man ihn nicht wie einen Armen behandelt. Und deshalb darf Justitia nicht blind sein. Niemand ist „gleich“, weder vor dem Gesetz, noch sonst irgendwo auf dieser Welt. Das einzige, was gleich ist ist, dass wir alle Menschen sind.“
Wir vergeben den Wolfgang Swoboda Preis für Menschlichkeit im Strafverfahren heute zum dritten Mal. Es freut mich sehr, dass der Preis so gut angenommen wurde; dass sich darum eine Gruppe von besonderen Menschen gebildet hat, die auch den Festakt jedes Jahr zu einem wunderschönen Erlebnis werden lässt. Bedeutung erlangt ein Preis aber vor allem durch die Preisträger. Hier haben wir uns die Latte bewusst sehr hoch gelegt.
Im Vorjahr ging der Preis an den Doyen der österreichischen Strafrechtslehrer, heuer erhält ihn ein sehr junger Künstler. Nichts könnte besser verdeutlichen, wie vielfältig die Möglichkeiten sind, zu etwas mehr Menschlichkeit im Strafverfahren beizutragen. Man muss sie nur nützen.“
Dankesrede von Nikolaus Habjan anlässlich der Verleihung des Wolfgang-Swoboda-Preises 2016
„Ich freue mich sehr, hier zu sein. Es wäre auch für Friedrich Zawrel eine besonders große Freude gewesen, hier vor Ihnen zu stehen. Sein Leben wurde durch Verbrechen des Nationalsozialismus nachhaltig beschädigt. Er ließ sich aber von den Gräueltaten nicht brechen und predigte mir und allen Jugendlichen, denen er sein Leben erzählte, immer wieder den einen Satz: „Wehret den Anfängen, so etwas darf nie wieder passieren.“
Der Fall von Friedrich Zawrel ist beispielhaft für Tausende Schicksale. Es ist eine Justiz-Republiksgeschichte. Schmerzlich mussten wir lernen, dass 1945 nicht die Stunde Null war, sondern dass die Opfer weiterhin respektlos in das Eck der Verbrecher gestellt wurden.
Statt Resozialisierung betrieb man Entsozialisierung. Jahrzehnte nach dem Krieg tat sich die Justiz schwer, Lager- und Heiminsassen als Menschen vor dem Gesetz zu sehen.
Auch heute ist es in Österreich noch immer möglich, sich der NS-Sprache ungestraft zu bedienen:
Unter dem Titel „Mauthausen-Befreite als Massenmörder“ erschien vergangenen Sommer in der Zeitschrift Aula, ein Artikel von Manfred Duswald, der die Überlebenden des KZ in Oberösterreich pauschal als „Landplage“ und „Kriminelle“ darstellt. Darin heißt es:
„Raubend und plündernd, mordend und schändend plagten die Kriminellen das unter der ‚Befreiung‘ leidende Land. Eine Horde von 3.000 Befreiten wählte den Weg ins Waldviertel im Nordwesten von Niederösterreich und wetteiferte dort mit den sowjetischen ‚Befreiern‘ in der Begehung schwerster Verbrechen.“
Zur Erklärung: Bis 1945 befanden sich in Mauthausen 200.000 politische Gefangene, Homosexuelle, Kriegsgefangene und auch sogenannte „Asoziale“. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde ermordet, viele starben bei der brutalen Zwangsarbeit in den Steinbrüchen.
Das von der Staatsanwaltschaft Graz aufgenommene Ermittlungsverfahren wurde eingestellt. Auf Antrag des Autors, Manfred Duswald, wurde seitens der Staatsanwaltschaft Graz die Einstellung des Verfahrens so begründet:
„Es ist nachvollziehbar, dass die Freilassung mehrerer tausend Menschen aus dem Konzentrationslager Mauthausen eine Belästigung für die betroffenen Gebiete Österreichs darstellte“. Weiteres heißt es,da sich (unbestritten) unter den Inhaftierten Rechtsbrecher befanden.“
Anstatt sich mit der NS-Sprache historisch zu beschäftigen, schlug die zuständige Grazer Staatsanwältin Landplage im „Duden“ nach. Die Rechtschreibung stand ja nicht zur Diskussion. Nach Aussagen der Sprachwissenschafterin Ruth Wodak geht die Etymologie des Gebrauchs von ‚Landplage‘ bis zu Martin Luther zurück und ist auch in der NS-Sprache
verankert.
Auch das Comité International de Mauthausen (CIM) als Dachverband von derzeit 21 nationalen Organisationen von Überlebenden des KZ Mauthausen und deren Angehörigen verwehrte sich auf das Heftigste gegen die vollkommen aus der Luft gegriffene Pauschalierung der Staatsanwaltschaft Graz und spricht von einer Verhöhnung der Überlebenden.
Nicht immer geschehen diese Dinge aus böser Absicht heraus, manchmal auch aus simpler Hirnlosigkeit, fehlender Empathie oder mangelnder Bildung. Es ist absolut überfällig, endlich Verständnis für die Opfer aufzubringen und nicht nur Verständnis für die Täter. Respekt für die Lebensumstände der Opfer. Verständnis dafür, dass einige unter den herrschenden Umständen der Zeit – wie Friedrich Zawrel- gezwungen waren, kriminell zu werden.
Und kein Verständnis aufzubringen für Menschen die solch menschenverachtenden Begründungen schreiben oder für ‚unbedenklich‘ empfinden.
Noch ist das NS-Verbotsgesetz ein Grundpfeiler unserer Rechtsordnung und muss es auch bleiben.
Friedrich Zawrel hat als Zeitzeuge zur Aufarbeitung der Verbrechen „Am Spiegelgrund“ ganz wesentlich beigetragen. Er hat unzählige Male vor Schülerinnen und Schülern über seine Erlebnisse und Erfahrungen – über sein Leben erzählt. Es war ihm wichtig, dass die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Naziverbrechen der Jugend vermittelt wird, damit diese Geschichte keine Wiederholung erfährt.
Im August stellten die ÖVP, SPÖ und die Grünen den Antrag, die Neue Mittelschule in der Hörnesgasse im 3.Bezirk nach Friedrich Zawrel zu benennen. Er selbst hatte diese Schule einige Monate lang besucht.
Alfred Strasser, der Vorsitzende der FPÖ des 3.Bezirks sprach sich gegen die Umbenennung der Schule aus und meinte, Friedrich Zawrel sei ein mehrfach vorbestrafter Krimineller…”und kein Vorbild für die Jugend. Er argumentierte auch mit Gerichtsurteilen, die vor 1945 gefällt wurden, und die alle bereits getilgt waren.
Am 7. Juni wird diese Schule in einer Feierstunde dieses großen Mannes gedenken und diesmal habe ich die Ehre, den Kindern von Friedrich Zawrel zu erzählen.
Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Preis aufgrund dieser skandalösen Einstellungsbegründung durch die Staatsanwaltschaft Graz ablehnen soll.
Graz zeigt uns leider, dass für manche Mitarbeiter der Justiz Rechtssprechung nur aus Duden und Gesetz besteht, aber es gibt einige Menschen, die stark dagegenhalten und die ich mit meiner Arbeit als Künstler unterstützen und stärken will
Der Kommentar von Oliver Scheiber im Standard vom 23.2.2016, in dem er von einem schweren Rückschlag der Justiz spricht, aber auch von einer neuen Generation von Richtern und Staatsanwälten rund um Justizminister Brandstetter, die Lehren aus der Vergangenheit gezogen haben und einen neuen Umgang mit Menschen vor Gericht anstreben, hat mich das noch einmal stark überdenken lassen.
Oliver Scheiber ist es zu verdanken, dass Friedrich Zawrel, Jahrzehnte als Verbrecher abgestempelt, Vortragender der Justiz geworden ist, im Rahmen eines Ausbildungsmodul und von über 120 angehenden Staatsanwälten und Richtern gehört wurde.
Darum nehme ich diesen Preis mit Freuden an, und danke denjenigen, die sich trotz solcher Skandale in Graz nicht entmutigen lassen sich weiter für einen menschenwürdigen und respektvollen Umgang mit Menschen vor Gericht einzusetzen. Vielen Dank!“